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Leere Ställe in Lavin. Potentiale und Grenzen
Im Sommer 2008 ist Jürg Wirt als Vertreter von Avenir Lavin mit der Anfrage an den Studiengang Bau und Gestaltung der Hochschule für Technik und Wirtschaft der HTW Chur getreten, ob es für die Studierenden nicht interessant wäre, Projekte für Wohnraum in den leerstehenden Ställen zu entwickeln. Der Studiengang hat die Aufgabe gerne angenommen. Die Studierenden des 2. und 3. Studienjahres entwickelten im Fach Konstruktion im Wintersemester 2009/10 Projekte für Stallumbauten, die auch das Potential haben, von Einheimischen finanziert und gebaut werden zu können. Die vorliegende Projektdokumentation beinhaltet alle im Kurs entstandenen Umbauvorschläge.

Sitautionsplan von Lavin mit den bearbeiteten Ställen

 

Das Unterengadin wird seit der Eröffnung des Vereinatunnels touristisch immer attraktiver. Vor allem die Verkürzung der Reisezeit zum Schweizer Mittelland trägt dazu bei. Zudem suchen finanzkräftige Unterländer zunehmend nicht nur im Oberengadin nach Zweitwohnungen, sondern auch im Unterengadin. Der finanzielle Druck auf die Haus- und Wohnungspreise aus dem Oberengadin ist im Unterengadin angekommen. Für die Gäste aus dem Unterland ist vor allem die historische Bausubstanz, seien es Ställe oder Wohnhäuser, interessant. Hier ist es für die lokale Bevölkerung kaum mehr möglich, finanziell mitzuhalten. Liegenschaften, die beispielsweise in Tschlin für Fr. 400'000.- nicht verkauft werden konnten, werden, wenn sie in St. Moritz angeboten werden, teilweise für über 1 Million Fr. verkauft. Dadurch weicht die lokale Bevölkerung auf die erschwinglichen Neubausiedlungen am Rande der historischen Siedlungen aus. So entstehen praktisch um alle Dörfer auswechselbare, gesichtslose Siedlungen aus Einfamilienhäusern oder gut gemein-ten, auswechselbaren Alpenarchitekturen. Eine der wenigen Ausnahmen ist in der Gemeinde Ftan entstanden. Dank einer beachtenswerten Initiative wurde ein Architektur-wettbewerb für bezahlbare Mietwohnungen ausgeschrieben. Der Unter-engadiner Architekt Urs Padrun konnte zu Beginn 2010 im Neubaugebiet der Gemeinde ein strenges Bauensemble mit genossenschaftlichen Wohnungen fertigstellen. Ftan engagiert sich, kostengünstigen Wohnraum für Einheimische zur Verfügung zu stellen. Das ist lobenswert, wird aber ein Ausnahmefall bleiben. Um allgemeingültige Lösungsansätze für das Wohnproblem bieten zu können, ist ein politisch weniger aufwendiger Prozess anzustreben. Einen sinnvollen Lösungsansatz bieten die häufig kaum mehr genutzten Ställe in den Dörfern.
 
Die Bündner Gemeinde Lavin entwickelt sich seit einigen Jahren erstaunlich. Das war nicht immer so. Noch vor kurzem wurde beispielsweise nach der Fertigstellung 1999 des Schulhausneubaus mit Mehrzweckhalle die Primarschule mit den Gemeinden Ardez und Zernez zusammengeschlossen und der Schulbetrieb in Lavin komplett eingestellt. Gleichzeitig hatte die Gemeinde im Vergleich zu den umliegenden Dörfern mit einem Höchststand von nur temporär genutzten Häusern zu kämpfen. Doch heute ist Lavin auch für Einheimische als permanenter Wohnort wieder attraktiv. Dadurch bietet sich gerade jetzt die Chance, diese Entwicklungen nicht einfach nur hinzunehmen, sondern auch weiter gezielt zu fördern.

Das Dorf Lavin stand lange Zeit im Schatten der pittoresken Gemeinden Guarda und Ardez, welche nicht nur mit ihrer sonnigen Lage auftrumpfen können, sondern auch mit einer überaus beachtenswerten historischen Bausubstanz. Diese beiden Gemeinden sind heute touristisch sehr gut erschlossen. Dies führt dazu, dass bei historischen Bauten ein hohes Preisniveau vorhanden ist, welches es Einheimischen verunmöglicht, günstig Wohnraum zu erstehen. In den letzten Jahren hat sich die Situation stark akzentuiert. Das führte dazu, dass auch Lavin sowohl als Wohn- wie auch als Arbeitsort immer attraktiver wurde. Aber auch Touristen beginnen die Gemeinde zu entdecken. Dennoch ist der Ort touristisch noch wenig überlaufen und besitzt einen authentischen Charme. Ein engagiertes Kulturleben, das Bistro mit seinen Veranstaltungen im alten Stationsgebäude, das Hotel Piz Linard mit seinem Kulturprogramm, Essen und den von Künstlern eingerichteten Zimmern steuern das ihrige zum Dorfleben bei. Aber auf dem Häusermarkt beginnen die Preise zu steigen und erreichen auch in Lavin für die Einheimischen ein hohes Niveau.

Öffentliche Präsentation der Entwürfe der Studierenden in der Turnhalle in Lavin, Januar 2010.

Fragestellung der Studierenden der HTW Chur

Die historische Bausubstanz von Lavin ist sowohl in städtebaulicher wie auch architektonischer Hinsicht einmalig. Diese Einmaligkeit zu erhalten und als Qualität zu nutzen war Teil der Aufgabenstellung der Studierenden. Die nach dem Brand von 1869 errichteten Häuser bilden mit dem dazugehörigen Stall eine bemerkenswerte Einheit. Da Lavin so rasch wie möglich wieder aufgebaut werden musste, waren die einzelnen Bauten vom Gesetzgeber vorgeschrieben, teilweise standardisiert, einfach klassizistisch gehalten und aus Sicherheitsgründen voll mit Steinmauern ummantelt. Dieselbe Hausfassade fasst den gesamten Baukörper von Haus und Stall ein, wobei der Stall vielfach etwas weniger Öffnungen oder gar Rundbögen besitzt. In einigen Fällen sind die Öffnungen aber auch leicht anders proportioniert als im Wohnteil. Dennoch ist oft nur über das grosse Tor klar, wo sich der Stall befindet. Aussergewöhnlich sind auch die erstmals in Graubünden benutzten flachen, holzsparenden «Holzcementdächer», welche alle nach dem Brand errichteten Gebäude auszeichnen.

Lavin befand sich in den letzten Jahren strukturell in einer Umbruchphase. Die Landwirtschaft bietet immer weniger Personen ein Auskommen. Effizienzsteigerung und Kostenreduktionen waren notwendig, um ein Überleben zu sichern. Die Ställe, welche traditionell im Inneren des Dorfes liegen, waren zu klein und können mit grossen Lastwagen nicht erreicht werden. Auch sind sie für einen zeitgenössischen Landwirtschaftsbetrieb zu klein. Deshalb schliesst sich heute, wie in vielen Bündner Gemeinden, ein Ring von grossen Stallneubauten um das historische Dorf. Dazu kommt, dass auch in Lavin immer weniger Personen in der Landwirtschaft tätig sind, was die Leerstände weiter massiv erhöht und den alten Ställen ihre ursprüngliche Funktion nimmt.

Da zu jedem historischen Haus in Lavin ein Stall gehört, steht heute praktisch die Hälfte des Bauvolumens leer. Gleichzeitig entsteht derzeit neben dem Dorf, etwas versteckt von der historischen Siedlung, ein Neubauquartier, um junge Familien ins Dorf zu holen und der Gemeinde Wachstum zu ermöglichen. Aus der Überlegung heraus, dass heutzutage im Dorf vielfach die Hälfte eines Hauses, sprich der Stall, wenig bis kaum genutzt wird, stellt sich die Frage, ob nicht eine innere Verdichtung von Lavin mit Stallumbauten sinnvoll wäre. Auch stand zu Beginn unserer Untersuchung die Frage im Raum, ob eine derartige Umnutzung aufbauend auf dem bestehenden Rohbau nicht die Baukosten senken könnte. Dies könnte dazu beitragen, dass die Hausbesitzer sich eine neue Einnahmequelle durch die Vermietung oder gar den Verkauf des Stalles schaffen oder dank einer Einleger-wohnung sich ein Zusatzeinkommen sichern könnten.

Ein Student päsentiert seinen Entwurf vor der Gemeinde.

Lösungsansätze der Studierenden

Die Studierenden der Vertiefungsrichtung Architektur des Studiengangs Bau und Gestaltung des 3. und 5. Semesters erarbeiteten innerhalb des Fachs Konstruktion im Wintersemester 2009/10 einzelne Stallprojekte. Ziel war es, dass die Studierenden auf das Bedürfnis nach günstigem Wohnraum eingehen, eine Verdichtung im Dorf vornehmen, aber auch auf die bestehende historische Struktur Rücksicht nehmen. Die begleitenden Dozenten Norbert Mathis und Maurus Frei legten Wert auf die reale Ausführbarkeit der einzelnen Projekte. Auf die individuellen Wünsche und Bedürfnisse der Besitzer wurde, soweit möglich, architektonisch sinnvoll eingegangen. Somit ging es sowohl um die Erfüllung eines gegebenen Raumprogramms, wie auch um die Auslotung der individuellen Chancen und Möglichkeiten der einzelnen Bauvolumen.

Die Studierenden schlugen für die jeweiligen Stallvolumen die unterschiedlichsten Lösungsansätze vor. Erst in einem weiteren Schritt kann aber entschieden werden, welche spezifischen Aspekte für den jeweiligen Stall und die jeweiligen Besitzer die richtigen wären. Um derartige Umbauten überhaupt zu ermöglichen, wurde darauf geachtet, dass die neuen Einbauten entweder modularisierbar sind und aus Holz vorfabriziert werden oder einfach auf die Baustelle zu bringen sind. Derartige Eingriffe können ohne weiteres von den lokalen Baumeistern und Schreinereien ausgeführt werden.

Finanzielle Aspekte

Eines der übergeordneten Ziele der Entwurfsansätze war, dass auch mit einem limitierten Budget es möglich sein sollte, qualitativ hochstehenden Wohnraum zu schaffen. Es stellte sich aber heraus, dass die Kosten eines Umbaus mehr oder weniger gleich hoch sind wie bei einem Neubau. Obwohl der Rohbau bei den Ställen praktisch schon vorhanden ist, fallen Kosten für den Abbruch, aber auch für die Sicherung der bestehenden Bausubstanz an. Die Kosten sind je nach Projekt und Grösse des Stalles unterschiedlich und weisen eine untere Grenze von ca. Fr. 600'000.– auf und sind je nach Gebäudevolumen und Ausbaustandard nach oben offen. Die Projekte sollen vor allem die räumlichen Potentiale der einzelnen Gebäude aufzeigen. Hieraus lassen sich in einem nächsten Schritt den einzelnen Bauvolumen entsprechende Konzepte entwickeln, die mehr sind als eine reine Frage der Kosten.

In einem weiteren Schritt kann über eine weitere Vorfabrikation, Kostensenkung durch projektspezifische Eigenleistungen etc. nachgedacht werden. In der Stufe, welche von den Studierenden innerhalb eines Semesters bearbeitet werden konnte, war dies noch nicht möglich.

Ein typisches Haus in Lavin, bei dem der Stall kaum vom Wohnteil unterschieden werden kann.

Städtebauliche Chancen

Für Lavin eröffnen sich mit einem Stallausbau erhebliche Chancen. Die innere Verdichtung bringt Leben in die Dörfer, schont das wertvolle Agrarland, reduziert den Landverbrauch und lässt über die Konzentration der Bauvolumen auch die Aufwendungen für die im Dorf benötigte Infrastruktur nicht unnötig anwachsen.
Gerade Dörfer, wie Lavin bietet eine innere Verdichtung die Chance, ihren eigenständigen Charakter zu bewahren und finanzierbaren Wohnraum für die Einheimischen zu schaffen. Lavin hat nach dem Dorfbrand von 1869 beim Wiederaufbau ein klares, einheitliches Dorfbild erhalten. Diese klare Dorfstruktur ist ein Kapital für die Gemeinde, das sie von vielen andern Dörfern abhebt. Diese zu verwässern oder gar zu zerstören, wäre ein Verlust. Doch darf der Ort nicht zu einem Museum werden. Ein vielfach gewohnheitsmässiger Gebrauch des Stalles als Lagerraum reicht nicht aus, um dem Dorf eine Zukunft zu geben. Die vorhandenen Volumen sollten belebt werden und auch für Einheimische bezahlbar sein. Die lebendige Weiterentwicklung der bestehenden Dorfstruktur ist möglich und soll durch die Studierendenprojekte weiter angestossen werden.

Daniel A. Walser Chur, 20. Juni 2010

Begleitende Dozenten Konstruktion: Norbert Mathis, Maurus Frei