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Das Italienische Landhaus im Bergell
Buchrezension zur Renovation der Villa Garbald von Gottfried Semper

Durch das Bergell führte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine der wichtigsten alpendurchquerenden Verkehrswege. Castasegna war Grenzort und besitzt mit der «Villa Garbald» von Gottfried Semper ein einmaliges Bauwerk. Der junge Zöllner Agostino Garbald und seine Frau Johanna liessen sich 1862 von Semper, einem der damals wichtigsten Europäischen Architekten eine Villa planen. Die Villa Garbald stellt ein Kapitel Baugeschichte von internationaler Bedeutung dar. Das «italienische» Landhaus, dessen Restaurierung und Erweiterung (2002-2004) durch die Architekten Quintus Miller und Paola Maranta vor kurzem abgeschlossen wurde, verweisen auf die Bedeutung des Bauortes im Spannungsfeld zwischen 19. und 21. Jahrhundert.

Agostino und Johanna Garbald waren ein weltoffenes Ehepaar. Ihre Beziehung gründete auf einem damals eher ungewöhnlichen Modell einer gleichberechtigten Partnerschaft, die wesentlich auf der gemeinsamen Freude an Wissen und Bildung basierte. Augustino war Zöllner, richtete in Castasegna eine der ersten meteorologischen Stationen der Schweiz ein, betrieb botanische Studien, sammelte technische Geräte und träumte von einer grossen Erfindung. Seine Frau Johanna, die sich als Dichterin verstand, veröffentlichte selber unter dem Pseudonym Silvia Andrea zahlreiche Erzählungen und Romane. Die Eheleute baten Semper, den ersten Architekturprofessor des neugegründeten Polytechnikums, um die Planung eines «tunlichst einfachen» Hauses, wobei sie ihm keinerlei formale Vorgaben machten.

Der jüngsten Sohn Andrea Garbald war Fotograf und wie seine beiden älteren Schwestern kinderlos. 1955 gründete er mit seiner Schwester 1955 eine Stiftung, in welche die Villa, das Grundstück, Einrichtung und Vermögenswerte eingingen. Nach seinem Tod 1958 wurde die Fondazione Garbald 1961 offiziell eingetragnen und diente dem Zweck ein «Zentrums für Künste, Wissenschaft und Handwerk in der Villa und Pflege des literarischen Erbes der Mutter» zu sein. Doch das Haus wurde vorerst in eine Polizeistation umfunktioniert und beherbergte in den Obergeschossen zwei Mietwohnungen. Dies begann sich erst ab 1986 zu ändern, als der Künstler und Fotograf Hans Danuser auf dem Dachboden unter anderem die Bibliothek Garbals, Manuskripte, Fotografien und eine Skizze Sempers gefunden hatte.

Mit der ETH Zürich und dessen interdisziplinären Collegium Helveticum konnte ein starker Partner für die Stiftung gefunden werden, der mit seinem Hauptgebäude und der Sternwarte selber zentrale Bauwerke von Semper besitzt. 1999 wurde beschlossen in Castasegna eine Aussenstation, ein «Zentrum für Forschung, Kommunikation und Kultur» einzurichten, was auch dem ursprünglichen Stiftungszweck der Villa entspricht. Für die erweiterte Nutzung des Seminarzentrums mussten aber zusätzliche Gastzimmer erstellt werden. Den hierfür durchgeführten eingeladenen Wettbewerb konnte 2001 das Basler Architekturbüro mit Bündner Wurzeln Miller und Maranta für sich entscheiden. Die Architekten haben die Villa respektvoll renoviert, die ursprüngliche Bemalung wieder freigelegt und im Garten einen Wohnturm errichtet, der die zusätzlich benötigten Räume aufnimmt.

Die Villa zwischen Ort und Welt
Erstaunlicherweise war Semper selber nie im Bergell. Er hat den Bauplatz und die errichtete Villa nie gesehen. Seine Kenntnisse vom Bauort stützten sich vollends auf Planunterlagen, die Beschreibungen seiner Bauherren und seine eigne Imagination. So musste ihn Augustino Garbald nach der Sichtung des ersten Entwurfs darauf aufmerksam machen, dass das effektive Baugelände steiler ist und anders verläuft. In den von Semper angefertigten Ansichten sind die Bergwände Castasegnas sanfte Italienische Hügelzüge. Auch architektonisch bezieht sich Semper auf Italienische Ländhäuser. Die Proportionierung des Baukörpers, der offene Dachstuhl und die dem Haus auf der ganzen Länge vorgelagerte Pergola zeugen von diesen Einflüssen. Einfache Italienische Landhäuser mit offenen Trockenböden gehörten zu Beginn den 19. Jahrhunderts zu den üblichen Haltepunkten auf den Italienreisen angehender Architekten. Auch bei Semper sind derartige Skizzenblätter zu finden. Wie bereits Karl Friedrich Schinkel bei seinem Gärtnerhaus von Schloss Charlottenburg bei Potsdam (1829-31) hat Semper mit der Villa Garbald seine Vorstellung von einem Italienischen Landhaus errichtet. Werner Oechslin formulierte, dass Semper eher «das Ländliche, als Gegensatz zum Urbanen» suchte. Der Kontrast zur grossen architektonischen Geste oder zur städtisch-wichtigtuerischen Verzierung stehe hier im Vordergrund. Das Castasegna in den Bergen lag, für Semper nicht von Interesse. Es sollte ein angemessenes, ländliches Bauwerk entstehen.

Die Garbalds bezogen 1864 die Villa. Die Innenräume wurden 1865 komplett in eindrücklicher Qualität ausgemalt, welche 1905 mit Jugendstildekorationen übermalt wurden. Die heute wiederentdeckte ursprüngliche Ausmalung ist zwar gemäss John Ziesemer wohl nicht direkt von Semper stammend, doch können die gestalterischen Prinzipien mit Semper in Einklang gebracht werden und ergänzen den Bau überzeugend. Während der Restauration wurden die Malereien wieder komplett freigelegt und restauriert.

In der Schweizerischen Bauzeitung wurde die Villa Garbald 1916 portraitiert. Der Bau wurde nicht mehr als eine Verkörperung einer Italiensehnsucht gesehen, sondern galt als integraler Teil des Ortes. Bei der Villa wurde von einer möglichsten Anpassung an die örtliche, südbündnerische Bauweise des Landhauses gesprochen, in dem wiederum «die Nachbarschaft Italiens von deutlichem Einfluss» sei.

Der Neubau von Miller und Maranta
Miller und Maranta errichteten entlang der Gartenmauer an der Stelle des ehemaligen Heustalles ein turmartiges Wohnhaus, den Roccolo. Das Volumen reagiert mit seiner polygonalen Form auf die Gartensituation. Der Turm ist zwar durchaus prägnant, doch erscheint dieser durch den polygonalen Grundriss und die Materialisierung ganz selbstverständlich an seinem Ort. Die betonierten und anschliessend mit Hochdruck abgespritzten Betonwände des Roccolo nähern sich in ihrer steinernen Textur der Gartenmauer und den Gebäuden von Castasegna an. Die Architekten selbst bringen ihren Turm in Bezug zum Bautyp der Roccoli. Ein Roccolo bezeichnet eine turmartige Einrichtung zum Vogelfang. Verbreitet waren diese Bauten vor allem im Tessin, aber auch im Bergell sind sie zu finden. Die Architekten suchten wohl weniger diesen direkten Bezug, als den Ausdruck «von Turm und Süden schlechthin, von einer Andersartigkeit, einer gewissen Ursprünglichkeit auch», wie Martin Tschanz darlegt.

Miller und Maranta studierten bei Miroslav Sik und Bruno Reichlin als «Analoge Architekten» und lernten mit vorgefundenen Bildern und Analogien auf die gestellte Bauaufgabe und den Ort zu reagieren. Doch haben sie sich stark weiterentwickelt und verweben den Turm mit dem Ort. Die Nutzung ist übereinander gestapelt und nicht wie normalerweise geschossweise geschichtet. Die Treppe windet sich spiralförmig um einen inneren Kern nach oben und erschliesst die einzelnen Zimmer auf jeweils unterschiedlichen Niveaus. Hierdurch wird auch das Fensterbild in der Fassade abstrakter und gleichzeitig spielerisch. Der Turm ist ein archaischer Gegensatz zur fein gearbeiteten Villa, verankert aber den Gesamtkomplex im Ort.

Miller und Maranta haben die Villa respektvoll auf die Originalsubstanz zurückgebaut, geschmackvoll restauriert und sachte zu einem vielschichtigen Komplex erneuert. Auch wurden die beiden Gebäude schlicht möbliert. Der einzige Eingriff mit einem vernachlässigbaren Verlust von Originalsubstanz ist die ehemalige Waschküche, die zum neuen Essraum mit einer zum Garten hin geöffneten grossen Fensterfront. Dieser Eingriff definiert innerhalb des Semperbaus das Speisezimmer als neues gemeinschaftliches Zentrum.

Ein Lesebuch zur Architektur
Die vorliegende Publikation zur Villa, welche vom Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich herausgegeben wurde, leuchtet die verschiedensten wissenschaftlichen und baulichen Aspekte aus. Der reich bebilderte Band ist eine Entdeckungsreise in die Zeit- und Kulturgeschichte. Das Buch lebt nebst dem historischen Plan- und Fotomaterial vom präzisen Fotoessay von Ruedi Walti, in welchem er mit unprätentiösen Fotografien er die beiden Baukörper porträtiert.

Es fehlt ein vertiefter Blick in die Geschichte Familie Garbald und Castasegnas als historischer Zollort. Hierdurch wäre es möglich gewesen vertieft den Bau mit dem Ort zu verknüpfen. Die Rekonstruktion der heutigen Villa, welche sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützt, ist nicht nur eine Wiederherstellung historischer Gegebenheiten, sondern eine Interpretation des ursprünglichen Baues. Gerade in den Innenräumen wurden Vereinfachungen vorgenommen. So fehlen die Vorhänge und Textilbehänge. Das ehemalige Muster der Tapezierung der Wände ist heute unbekannt, weshalb sich die Architekten entschlossen diese durch ein einfarbiges Fabrikat zu ersetzen. Das ohne Zweifel ausgezeichnete Ergebnis des Umbaues ist auch ein weiterbauen und sensibles aktualisieren eines historischen Bauwerkes. Dieser Aspekt hätte im Buch durchaus stärker thematisiert werden können.

Leider ist das Buch nicht wirklich zweisprachig. Dies mag aus verlegerischer Sicht verständlich sein, doch wird dem Standort der Villa Garbald dem italienischsprachigen Bergell der Inhalt des Buches in seiner Breite vorenthalten. Die im Anhang befindlichen kurzen italienischen Zusammenfassungen können diesen Mangel nur beschränkt beheben.

Die Publikation zur «Villa Garbald» ist ein schlichtes und sehr schön gemachtes Buch zur Baugeschichte der Sempervilla und dem Turmbau von Quintus Miller und Paola Maranta. Das Buch portraitiert nicht nur die Baugeschichte, sondern aktualisiert diese und macht sie lebendig. Die ETH Zürich erhält in Castasegna ein ausserordentliches Forschungs- und Seminarzentrum und der Leser ein geschmackvolles Buch zu einem wichtigen Bauwerk in den Bündner Bergen.

 

Daniel Walser

 

Sonja Hiltebrand, Werner Oechslin, Jürg Ragettli, Martin Tschanz und andere, Villa Garbald. Gottfried Semper - Miller und Maranta, gta Verlag, Zürich 2004, 125 Seiten, Sfr.59.00.-, ISBN 3-85676-130-6